Jacobs Haus
Der Rossmarkt ist in Nürnberg zentral gelegen, aber wenn Sie jemanden nach dem Weg fragen, bekommen Sie ein Kopfschütteln als Antwort. Was nicht daran liegt, dass dort schon lange kein Pferdehandel mehr stattfindet1, sondern daran, dass die Gasse Anfang des 19.Jahrhunderts einen neuen Namen erhielt.2 Seitdem heißt sie Adlerstraße.
Es ist keine Gegend, in die sich allzu viele Touristen verirren. Falls doch, passieren sie die Adlerstraße möglichst rasch, um irgendwohin zu kommen, wo es besser ist. Auch bei den Eingeborenen dürfte sie im Beliebtheitsranking auf einem der hinteren Plätze landen.3
Ungefähr in der Mitte zwischen Anfang und Ende der Straße befindet sich Nummer 23. Hier würde, wenn es nicht erfunden wäre, das Haus der Familie Teufel stehen.
Nein, stimmt nicht. Selbst wenn es nicht erfunden wäre, man würde vergeblich nach Überresten suchen. Dort, wo es gestanden hätte, steht heute ein modernes Gebäude, das einer Bank gehört. Früher gab es an dieser Stelle ein repräsentatives Renaissancehaus. Aber das ist schon lange her, mehr als hundert Jahre. Seitdem wurde, was dort stand, mehr als einmal abgerissen und neu errichtet. Vermutlich ist es nicht übertrieben, wenn man sagt, hier wurde kein Stein auf dem andern gelassen.
Von einem Ort, den es nicht gibt, muss es auch kein Foto geben. Was sollte darauf zu sehen sein? Der Blick in die entgegengesetzte Richtung ist interessanter. Man muss sich, vor Nummer 23 stehend, nur umdrehen. Plötzlich hat man ein fast unverfälschtes Stück Mittelalter vor sich.
Natürlich nicht das Kriegerdenkmal (19. Jahrhundert).4 Auch nicht die Hausmadonna an Nummer 28, spätmittelalterlich, das ist eine Kopie.5 Ebenso wenig die Häuser rundherum, in denen sich einiges an Bausubstanz finden dürfte, was aufs Mittelalter zurückgeht (auch wenn man das auf den ersten Blick nicht sieht). All das meine ich nicht. Ich meine kein Haus, kein Standbild, keinen Gegenstand. Ich meine nicht irgendein ETWAS, sondern einen Überrest, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass da NICHTS ist: ein leerer Platz. Eine Lücke.
Die Lücke zwischen den Häusern ist sehr alt. Warum auch immer diese Stelle nicht bebaut wurde, im Zentrum einer mittelalterlichen Stadt, in der bestimmt kein Überfluss an Grundstücken herrschte, sie ist all die Jahrhunderte hindurch unbebaut geblieben.
Das Besondere an diesem Ort ist der freie Blick über die Stadt hinweg zur Burg. Sogar der Turm des Tiergärtnertors ist gut zu erkennen, und der markante Aufzugserker des Pilatushauses (in der Humanistenverschwörung das Haus mit dem Drachentöter).
Auch der Name der Baulücke ist uralt: Köpfleinsberg.6 Noch ein Überrest also. Ein sperriger Name für einen abschüssigen kleinen Platz. Mit welcher Zähigkeit er dem Strom der Jahrhunderte getrotzt hat, lässt sich schwer ermessen.
Fazit. Am Rossmarkt gibt es nichts mehr zu sehen? Kommt darauf an, wie man sehen definiert.
PS.
Am Fuß des Köpfleinsberges befindet sich ein stadtbekanntes Café/Restaurant. Im November 2015 hat es den Besitzer gewechselt, und den Namen. Bis dahin kannte es jeder als das Lucas; seit mindestens fünfzehn Jahren.
Aber was sind schon fünfzehn Jahre?
Anmerkungen
- Seit 1652. ↩
- 1806 wurde Nürnberg annektiert. In der Folge bekamen etliche Gassen neue, schönere, amtlich festgeschriebene Namen, z.B. die Zisselgasse, die in Albrecht-Dürer-Straße umbenannt wurde. ↩
- Ausgenommen vielleicht bei Autofahrern, denen sie eine der wenigen Möglichkeiten bietet, bis ins Zentrum der Altstadt vorzudringen. Am Ende der Adlerstraße (es ist eine Sackgasse, dahinter beginnt die Fußgängerzone) gibt es ein Parkhaus. ↩
- Denkmal für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Aufstellung 1876. Zurzeit (August 2016) ist die Siegessäule zwecks Sanierung demontiert. ↩
- Madonna mit Kind, um 1420-30. Unbekannter Künstler. Anbringung im 15. Jahrhundert. 1899 restauriert. Original im Germanischen Nationalmuseum. (Elke Masa, Freiplastiken in Nürnberg. Plastik, Denkmale und Brunnen im öffentlichen Raum der Stadt. Neustadt/Aisch 1994. S. 142.) ↩
- Belegbar seit dem 15. Jahrhundert. (Lexikon der Nürnberger Straßennamen. Herausgegeben von Michael Diefenbacher und Steven M. Zahlaus. Nürnberg 2011. S. 324.) ↩