Unaussprechliches Griechisch
Eine Kritzelei am Rand einer Dürerzeichnung gibt den Forschern Rätsel auf. Was bedeuten die Worte? Zu welchem Zweck wurden sie hingeschrieben? Was soll man daraus für Schlüsse ziehen? Anmerkungen zu einer Randnotiz.
In einer der letzten Szenen des Romans unterhalten sich Lucas und Magdalena über eine Zeichnung mit einer griechischen Aufschrift. Magdalena erzählt, sie habe Venator das Blatt vorgelegt, sei jedoch im Zweifel, ob er ihr die korrekte Übersetzung mitgeteilt habe:
»Er sagt, da steht, man muss seine Nase nicht in alles hineinstecken.«
»Warum denkst du, das stimmt nicht?«
»Er hat so in sich hineingegrinst. Und wieso hätte sich Vinzenz darüber aufregen sollen? Man muss seine Nase nicht in alles hineinstecken, was ist daran unaussprechlich?«1
Magdalena hat recht, die Übersetzung von Venator ist falsch. Nicht um die Nase geht es in der griechischen Aufschrift. Mit dem erigierten Penis in den Anus des Mannes lautet eine den Sinn korrekt wiedergebende Übersetzung.2
Wenn man die ordinäre Sprache berücksichtigt, kann man im Deutschen vielleicht auch sagen ›Mit dem Steifen in den Arsch des Mannes‹ – das trifft’s besser.3
Was ist das für ein Bild, auf dem sich eine solche Randnotiz findet?
Pirckheimer privat
Dürer hat den befreundeten Pirckheimer dreimal porträtiert. Eines der Porträts, eine Kohlezeichnung, ist auf 1503 datiert. Es zeigt den 33jährigen im Vollprofil, trotz gebrochener Nase und Doppelkinn strahlt er Würde aus. Die undatierte Silberstiftzeichnung, um die es hier geht, wird häufig als Vorstudie für das Kohlebildnis angesehen, eine Annahme, die einiges für sich hat, aber nicht zwingend ist. Der entscheidende Unterschied liegt auf einer anderen Ebene als der von Vorher und Nachher. Im Vergleich zur Kohlezeichnung wirkt die Silberstiftzeichnung überhaupt nicht repräsentativ. Sie ist nur halb so groß, Pirckheimer wird nicht inszeniert, modelliert, das bei Porträts unübliche Grinsen und die Profillinie, vor allem die Stirn, rufen einen völlig anderen Eindruck hervor als der Blick und das Profil in der Kohlezeichnung. Selbst die Kopfbedeckung, eine Netzhaube, vermittelt den Charakter des Privaten; im Kohlebildnis verschwindet sie unter dem Barett.
(Bildnachweis am Ende des Literaturverzeichnisses)
Am oberen Rand des Bildes, das ungefähr die Abmessungen eines A5-Blattes hat, befindet sich die erwähnte Notiz in Altgriechisch, bei der es sich offenkundig nicht um ein wohldurchdachtes, ausgeklügeltes Epigramm handelt, wie man es von einigen Dürerbildnissen kennt; beispielsweise vom dritten der Pirckheimerporträts, einem Kupferstich aus dem Jahr 1524.4
Von der Fußnote zur Schlagzeile
Dass es sich bei der Inschrift auf der Silberstiftzeichnung nicht um ein Epigramm im klassischen Sinn handelt, ist unter Kunsthistorikern schon länger bekannt. In einer Dürer-Biografie von 1876 wurde die unübersetzbare Aufschrift erstmals publiziert; natürlich nur in einer Fußnote, und nur im griechischen Wortlaut. Der aber war korrekt entziffert: Αρσενος τη ψωλη ες τον πρωκτον.5
In der Folgezeit wurde die Inschrift von der Forschung in diversen Fußnoten wiedergegeben und kommentiert.6 Bereits 1887 gab es auch eine erste Übersetzung; ins Lateinische.7 Zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde die Inschrift 1972. Es handelte sich um die eingangs zitierte Version von Timken-Zinkann.8 1996 hat der Kunsthistoriker Ernst Rebel diese Übersetzung in seiner Dürer-Biografie zitiert.9 Damit dürfte die Kenntnis vom Inhalt der seltsamen Randnotiz zum ersten Mal über einen Kreis von Insidern hinausgelangt sein.10
Endgültig ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rückte die griechische Inschrift Ende Februar 2003. Einige Monate zuvor hatte der renommierte Dürer-Experte Matthias Mende der Zeitschrift P.M. HISTORY ein Interview gegeben, in dem es um das Liebesleben des Malers ging. Er äußerte die Vermutung, dass Dürer bisexuell gewesen sein könnte; als möglichen Hinweis darauf führte er u.a. die Notiz auf dem Pirckheimer-Porträt an.11
Im Februar 2003 ging die Nachricht von dem skandalösen Interview durch die Medien. Das Echo auf die Spekulationen des ehemaligen Museumsleiters ließ an Borniertheit nichts zu wünschen übrig. Aus lizenzrechtlichen Gründen bin ich beim Zitieren von Zeitungsartikeln zurückhaltend, aber ein paar der Überschriften möchte ich Ihnen doch nicht vorenthalten. Einige Artikel sind derzeit auch noch online frei zugänglich.
- Süddeutsche Zeitung, 25.02.03: Der Dürer-Verrührer
- Süddeutsche Zeitung, 26.02.03: Hasen der Versuchung
- Die Welt, 26.02.03: Wer war Dürers Kuschelhase?
- BZ, 26.02.03: Nürnberg geschockt. War Albrecht Dürer schwul?
- Die Welt, 27.02.03: Nürnberg hält zu Dürer
Spätestens mit dieser Publicity war ein gewisses Interesse an der Zeichnung geweckt. Innerhalb von zehn Jahren nach Mendes Interview wurde das eher unscheinbare Blatt auf mindestens drei Ausstellungen gezeigt12 und mit diversen Kommentaren in den entsprechenden Ausstellungskatalogen und anderen Veröffentlichungen gewürdigt. Darüber hinaus wurde es chemisch analysiert. Ergebnis: Der Silberstift, den Dürer beim Zeichnen benutzt hat, war derselbe wie der, mit dem die Randnotiz geschrieben wurde.13 Wir können also davon ausgehen, dass Pirckheimer selbst die Inschrift mit Dürers Stift am Ende der Porträtsitzung auf dem Blatt hinterlassen hat.14
Die Frage ist allerdings, warum er das getan hat.
Das ist doch ein Scherz, oder?
Es liegt nahe, die Inschrift als eine Art Scherz aufzufassen; eine Deutung, der man bereits bei Thausing begegnet (derbe Späßchen). Auch in der modernen Dürerforschung scheint diese Sichtweise beliebt zu sein, wobei auf die moralisierende Komponente (schlechter Scherz) heutzutage verzichtet wird. Stattdessen versucht man mögliche Kontexte zu beschreiben.
- Parodie: Pirckheimer war mit der Praxis frommer Bildinschriften vertraut, ebenso Dürer. Die Kritzelei ist als Parodie auf Tugend- und Frömmigkeitsmaximen lesbar.15
- Retourkutsche: Aus Ärger über das Bildnis, auf dem ihn der Maler so unvorteilhaft wiedergegeben hat, schreibt Pirckheimer ein paar griechische Worte aufs Blatt. Als er Dürer die Beleidigung übersetzt, verschafft er sich die Genugtuung des zuletzt Lachenden.16
- Scherzkultur: Die Inschrift wird mit der allgemeinen Scherzkultur der Zeit in Verbindung gebracht, die recht derb sein konnte.17
Dass Pirckheimer die Worte in völligem Ernst auf das Blatt geschrieben hat, finde ich auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Randnotiz ist zweifellos als Scherz lesbar, auf diese oder jene Art. Wem das als Erklärung genügt, bitte.
Mir genügt es nicht. Vor allem deswegen nicht, weil andere, ebenfalls erklärungsbedürftige Dinge hinzukommen, von denen es im überlieferten Material so einige gibt. Es ist beileibe nicht erstaunlich, dass seit längerer Zeit Mutmaßungen über ein homoerotisches Interesse bei Dürer und Pirckheimer angestellt werden. Zur Illustrierung seien hier zwei Beispiele angeführt, eins aus Dürers grafischem Werk, eins aus seinen Briefen.
- Tod des Orpheus: Auf einer frühen Federzeichnung (1494) befindet sich ein Spruchband mit der Aufschrift Orfeus der Erst puseran. Bei puseran handelt es sich um eine Eindeutschung. Die Bedeutung ist unstrittig: Knabenschänder.18 Die Zeichnung illustriert den Mythos, wie er von Ovid überliefert wird: Orpheus, der sich nach dem endgültigen Verlust von Eurydike der Knabenliebe zugewandt hat, wird von den Mänaden getötet.19
- Hübsche Landsknechte: In einem Brief an Pirckheimer schreibt Dürer 1506 aus Venedig: O, wen jr hy wert, was wurd jr hüpscher welscher lantzknecht finden!20 In den zehn erhaltenen Briefen, die Dürer aus Venedig an Pirckheimer schickt, ist dies keineswegs die einzige Stelle, bei der die Forschung ins Grübeln kommt.
Bereits 1981 hat der Altphilologe Niklas Holzberg darauf aufmerksam gemacht, dass es an der Zeit wäre, die Hinweise auf den homoerotischen Charakter der Beziehung Dürer-Pirckheimer einer unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen.21 Außer weiteren Fußnoten und ein paar gutgemeinten Ansätzen hat sich seitdem nicht viel getan; seit 35 Jahren. Es ist ja oft von Überforschung die Rede. Dieser Bereich kann nicht gemeint sein. Nach wie vor gibt es nicht einmal eine einschlägige Studie.22 Angesichts der schieren Masse an Dürerliteratur darf man da schon von einem Defizit sprechen. Und das bei dem Thema, das die Leute am meisten interessiert.
Kein Thema für die Forschung?
Dass die Frage, ob Dürer homosexuell war, nur ein Thema für den Boulevard sei, keins für die Wissenschaft, das will mir nicht einleuchten. Natürlich kann der Fragehorizont nicht derselbe sein wie in der Klatschspalte, ein plumpes ‘War Dürer schwul?’ hätte mit Wissenschaft nicht viel zu tun. Dass der ganze Themenkomplex, der sich daran knüpft, keine Relevanz haben soll, das würde ich vehement bestreiten.
Ehrlich gesagt begreife ich nicht, wie man diese Frage so unterschätzen kann. Es liegt doch auf der Hand, dass es für das Verständnis von Kunstwerken alles andere als unwichtig ist, die biografischen Fragen zum Künstler aufzuarbeiten. Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Nehmen wir einmal an, es trifft zu, dass Dürer homoerotische Neigungen hatte, in welcher Form auch immer. Dann war es höchst riskant für ihn, etwas davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Auch wenn immer wieder zu lesen ist, wie freizügig die Zeit der Renaissance war, das ist ein Topos, an dem nicht viel dran ist. Abweichende Sexualität musste versteckt werden. Will jemand allen Ernstes behaupten, ein solches Verbergen wäre nicht bedeutsam für das Verständnis der Kunstwerke dieses Menschen? Obendrein war ein Gewissensproblem damit verbunden. Auch nicht weiter von Belang?
Natürlich wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei den Mutmaßungen über eine homo- bzw. bisexuelle Orientierung Dürers und Pirckheimers um methodisch höchst problematische biografische Spekulationen handelt.23 Methodisch wäre es allerdings sehr naiv, aus einer Kritzelei am Rand einer Zeichnung und ein paar anderen Anhaltspunkten direkte Rückschlüsse auf Dürers Liebesleben zu ziehen. Aber es wäre mir neu, dass Wissenschaft bei methodischen Fragen die Segel streicht.
Man könnte etwas boshaft sagen, unter Kunsthistorikern scheint die Kapitulation an dieser Stelle der Normalfall zu sein. Dürers Liebesleben? Viel zu spekulativ, damit gibt man sich nicht ab. Stattdessen zum tausendsten Mal die Ikone der Zunft, die Melancholie, Exerzierplatz für endlose Spekulation. Nichts gegen das Bild, ich liebe es. Aber warum gibt es 2016 immer noch kein brauchbares Buch über, z.B., Dürer und die Frauen, Dürer und die Männer, Dürer und Sex, ist mir egal, welchen Namen das Kind bekommt, Hauptsache, es wagt sich einmal jemand an ein paar Dinge heran, die doch wohl interessant wären. Wenn es methodisch höchst problematisch ist, warum nimmt sich denn niemand der Sache an und versucht ein Vorgehen zu entwickeln, das methodisch akzeptabel wäre?
Selbstverständlich wäre das mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden. Gut möglich auch, dass es sich um ein gar nicht so kleines Forschungsprojekt handeln würde. Das methodisch Problematische beginnt ja schon damit, dass unsere moderne Vorstellung von Homosexualität alles andere als deckungsgleich mit der der Dürerzeit ist. Nehmen wir nur die Begriffe: Damals sprach man von Sodomie – sofern man überhaupt davon sprach. Eine der zeitgenössischen Umschreibungen dafür war die unaussprechliche Sünde. Bestimmte Praktiken wie z.B. Analverkehr waren natürlich auch damals üblich, aber sie hatten möglicherweise eine andere Bedeutung als heute. Es führt leicht in die Irre, wenn man versucht, das verstehen zu wollen, ohne den historischen Kontext hinreichend geklärt zu haben. In dieser Hinsicht liefert die Rezeptions-Geschichte unserer Randnotiz reichlich Material. Ein Beispiel: 2006 wurde in einem Ausstellungskatalog eine Übersetzung der Inschrift zitiert, die bereits seit Längerem vorlag, bis dahin jedoch wenig Beachtung gefunden hatte: Mit dem aufgerichteten Glied des Mannes in den After.24 Der Stellungswechsel des Genitivs fällt zunächst kaum auf, doch der Unterschied zu Timken-Zinkanns Übersetzung betrifft ein nicht unbedeutendes Detail. Wenn der Hintern in der griechischen Inschrift nicht zwangsläufig der eines Mannes ist, dann ist zumindest von der Grammatik her auch eine heterosexuelle Lesart möglich. Genau das stand dann in dem Ausstellungskatalog: Allerdings lässt das Zitat keineswegs notwendigerweise auf homophile Neigungen schließen. Solche Praktiken wurden vermutlich aus Verhütungsgründen auch beim heterosexuellen Verkehr gepflegt.25 Die ganze Aufregung also umsonst: Der Arsch in der Inschrift ist ein beliebiger, und Analverkehr war damals eine gängige Verhütungsmethode.
Eine Argumentation, die sich rasch als brüchig erweist. Analverkehr wurde wie Homosexualität als Sodomie und damit als Ketzerei bestraft.26 Glauben Sie nicht? Vielleicht hat auch jener Mann es nicht glauben wollen, dem man 1517 in Ulm den Prozess gemacht hat. Dass jemand als Ketzer verbrannt wurde, weil er mit einer Prostituierten Analverkehr gehabt hatte, dürfte auch um 1500 nicht oft vorgekommen sein. Aber es macht deutlich, dass das Verbot ernst gemeint war.27
Über Vorschriften beim Sex haben sich Menschen schon immer hinweggesetzt, selbstverständlich auch in der Frühen Neuzeit. Um Analverkehr als üblichen Bestandteil des Liebeslebens jener Zeit plausibel zu machen, müsste man aber schon ein paar aussagekräftige Belege anführen können. Dass die Leute damals eine Vorliebe für ketzerische Verhütungspraktiken hatten, erscheint mir wenig plausibel.28
Dass wiederum Pirckheimer und Dürer mit der antiken Literatur einen Zugang zum Thema Sex hatten, der von der christlichen Sexualmoral vollkommen unabhängig war, bedeutet in unserem Zusammenhang, dass man auch diesen Kontext gründlich kennen muss, um die kleine Randnotiz einordnen zu können. Zur Verdeutlichung sei hier ein Gedicht aus dem antiken Rom zitiert.
Martial, Epigramme 11,43:
Deprensum in puero tetricis me vocibus, uxor,
corripis et culum te quoque habere refers.
dixit idem quotiens lascivo Iuno Tonanti!
ille tamen grandi cum Ganymede iacet.
incurvabat Hylan posito Tirynthius arcu:
tu Megaran credis non habuisse natis?
torquebat Phoebum Daphne fugitiva: sed illas
Oebalius flammas iussit abire puer.
Briseis multum quamvis aversa iaceret,
Aeacidae propior levis amicus erat.
parce tuis igitur dare mascula nomina rebus
teque puta cunnos, uxor, habere duos.Erwischst du mich in einem Knaben, Frau, beschimpfst du mich mit strengen
Worten und verweist darauf, dass auch du ein Arschloch hast.
Wie oft hat Juno dasselbe dem geilen Donnergott gesagt!
Dennoch liegt er bei dem großschwänzigen Ganymed.
Es ließ den Hylas sich krümmen der Tirynthier29, nachdem er den Bogen abgelegt hatte:
Glaubst du, Megara habe keine Arschbacken gehabt?
Es peinigte den Phöbus die flüchtige Daphne: Doch jene
Flammen hieß der öbalische Knabe30 weichen.
Obwohl Briseïs oft mit dargebotenem Hintern dalag,
war dem Aiakos-Enkel31 sein glatthäutiger Freund32 lieber.
Bezeichne also ja nicht das da bei dir als männlich
und glaube, Frau: Du hast nur zwei Fotzen.(Übersetzung von Niklas Holzberg)33
Falls Sie jetzt ein wenig die Stirn runzeln: Martial macht das mit Absicht, das Obszöne ist Stilmittel. Aber darum geht es hier gar nicht. Die Frage ist vielmehr: Wie haben Pirckheimer und Dürer wohl über Analsex gedacht, wenn sie solche Verse gelesen haben?34
Es hilft nichts: Man muss seriöse Wissenschaft betreiben, den ganzen Apparat in Gang setzen, und ganz sicher muss man mehr als einen einzelnen Experten daran beteiligen. Wer sollte das auch im Alleingang leisten? Altphilologe, Historiker, Kunsthistoriker in einem – und das jeweils mit den passenden Spezialisierungen? Es würde sicher auch nicht ausreichen, ein Colloquium zu veranstalten und einen weiteren Sammelband herauszugeben. Es sind zu viele Fragen, die sich ergeben, sobald wir das Problem, das die Inschrift aufwirft, ernst nehmen. Nichts davon ist en passant zu bewältigen. Diejenigen, die sich an diese Arbeit machen, müssen sich mit Mentalitätsgeschichte auskennen, mit der Geschichte der Sexualität, sie brauchen eine profunde Kenntnis der antiken Literatur, erst recht der Antikenrezeption in der Renaissance … ganz abgesehen von umfassenden Kenntnissen über Pirckheimer und Dürer, was auch bedeutet: Vertrautheit mit einem Werk, das hier wie dort einen erheblichen Umfang und eine denkbar anspruchsvolle Komplexität aufweist.35
Und das alles, um eine eilig hingekritzelte Randnotiz auf einer Dürerzeichnung zu verstehen? Natürlich nicht. Um die Inschrift geht es auch, aber die zentralen Fragestellungen dürften weit darüber hinausgehen.
Der Stand der Dinge
2012 fand in Nürnberg eine große Dürer-Ausstellung statt, auf der u.a. das Silberstiftporträt von Pirckheimer gezeigt wurde.36 In der Berichterstattung der Medien spielte auch die griechische Inschrift eine Rolle. In der Bild-Zeitung war sie der Hauptinhalt eines Artikels über die Ausstellung37, in der FAZ wurde in abgeklärtem Ton vermeldet, dass die Silberstiftzeichnung natürlich auch zu sehen und die Inschrift vom Ausstellungskommentar auf den Boden der nüchternen Tatsachen zurückgeholt worden sei.38
Zehn Jahre nach Mendes Interview hat sich die Aufregung gelegt. Teils, weil sich die öffentliche Rede über Homosexualität gewandelt, teils, weil das Insiderwissen über die griechische Randnotiz eine gewisse Verbreitung erfahren hat.39 Der Boulevard macht anzügliche Witze und klopft sich vergnügt auf die Schenkel, wieder ein Denkmal der Hochkultur vom Sockel geholt; die bürgerliche Presse winkt mit ostentativem Gleichmut ab, ach ja, diese Bemerkung über den Analverkehr.
Auf dem Boden der Tatsachen befinden wir uns noch lange nicht. Im Prinzip bin ich dennoch zuversichtlich. Die Dürerforschung habe ich als einen sehr lebendigen Bereich kennengelernt, und unsere Gesellschaft ist heute im Großen und Ganzen offen genug, auch einen womöglich homo- oder bisexuellen Dürer zu akzeptieren.40
Literatur
BRINKMANN 2007
Hexenlust und Sündenfall – die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien = Witches’ lust and the fall of man – the strange fantasies of Hans Baldung Grien / Städel-Museum. Ausstellung und Katalog von Bodo Brinkmann. Mit einem Beitrag von Berthold Hinz. Petersberg 2007.
CARSTENSEN 1982
Jens Carstensen, Über das Nachleben antiker Kunst und Kunstliteratur in der Neuzeit, insbesondere bei Albrecht Dürer. Freiburg i.Br. 1982.
DREWS 1887
Paul Drews, Wilibald Pirkheimers Stellung zur Reformation. Ein Beitrag zur Beurteilung des Verhältnisses zwischen Humanismus und Reformation. Leipzig 1887.
ECKERT 1971
Willehad Paul Eckert / Christoph von Imhoff, Willibald Pirckheimer: Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke und seiner Umwelt. Köln 1971.
GÖTZE 1967
Alfred Götze, Frühneuhochdeutsches Glossar. 7. Auflage. Berlin 1967.
GOLDBERG 1992
Christiane Goldberg, Carmina Priapea. Einleitung, Übersetzung, Interpretation und Kommentar. Heidelberg 1992.
GULDEN 2012
Sebastian Gulden, Nürnberger Eliten – Dürers Vorbilder und Aufraggeber. In: Daniel Hess/Thomas Eser (Hg.): Der frühe Dürer (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums). Nürnberg 2012. S. 286-288.
HOLZBERG 1981
Niklas Holzberg, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland. München 1981.
MARTIAL 2008
Marcus Valerius Martialis, Epigramme. Lateinisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. Stuttgart 2008 (= RUB 18554).
NOLL 2014
Thomas Noll, Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer. Facetten einer Freundschaft in Briefen und Bildnissen. In: Willibald Pirckheimer und sein Umfeld. Akten des gemeinsam mit dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg, dem Stadtarchiv Nürnberg und dem Stadtarchiv Lauf a. d. Pegnitz am 20./21. Juli 2012 veranstalteten Symposions im Welserschloss in Lauf/Neunhof. Herausgegeben von Franz Fuchs. Pirckheimer-Jahrbuch Bd. 28. Wiesbaden 2014. S. 9-55.
PANOFSKY 1955
Erwin Panofsky, The life and art of Albrecht Dürer, 1955. (Zuerst erschienen 1943.)
REBEL 1996
Ernst Rebel, Albrecht Dürer – Maler und Humanist. München 1996.
REICKE 1911/12
Emil Reicke, Die Deutung eines Bildes von Brosamer in der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 30 (1911/12).
ROTH 2006
Dürers Mutter: Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance um 1500. Hrsg. von Michael Roth unter Mitarbeit von Uta Barbara Ulrich. Berlin 2006.
RUPPRICH Bd. 1-3
Dürers schriftlicher Nachlass, hrsg v. Hans Rupprich. Bd. 1-3. Berlin 1956-1969.
SCHUSTER 1992
Peter Schuster, Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland 1350 bis 1600. Paderborn 1992.
STRAUSS 1974
Walter L. Strauss, Complete Drawings of Albrecht Dürer. New York 1974. Volume 2. 1500-1509.
THAUSING 1876
Moritz Thausing, Dürer. Die Geschichte seines Lebens und seiner Kunst. Leipzig 1876.
TIMKEN-ZINKANN 1972
Reinhard F. Timken-Zinkann, Ein Mensch namens Dürer. Berlin 1972.
WEIGAND 2007
Sabine Weigand, Das Perlenmedaillon. Frankfurt / M. 2007. (TB-Ausgabe der Originalausgabe 2005)
WEINER 2002
Monika Weiner, Ein delikates Kapitel aus Dürers Biografie. Interview mit Matthias Mende. In: P.M. HISTORY Dezember 2002. S. 54-59.
WINKLER 1937
Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers. Band II. 1503-1510/11. Berlin 1937. Katalogteil.
Bildnachweis
Albrecht Dürer: Porträt Willibald Pirckheimer
Kohlezeichnung, 1503
28,1 × 20,8 cm
Berlin, Kupferstichkabinett
Bildquelle: Zeno.org
Albrecht Dürer: Porträt Willibald Pirckheimer
Silberstiftzeichnung, undatiert
21,0 x 14,9 cm
Berlin, Kupferstichkabinett
Bildquelle: Wikimedia Commons
Albrecht Dürer: Porträt Willibald Pirckheimer
Kupferstich, 1524
10,8 x 11,2 cm
Washington, National Gallery of Arts
Courtesy NGA
Albrecht Dürer: Tod des Orpheus
Federzeichnung, 1494
28,9 × 22,5 cm
Hamburg, Kunsthalle / Kupferstichkabinett
Bildquelle: Zeno.org
Anmerkungen
- Die Humanistenverschwörung, Kap. 76, S. 367 ↩
- TIMKEN-ZINKANN 1972, S. 58 ↩
- Niklas Holzberg, Brief vom 11.12.1999 ↩
- Übersetzung der Inschrift: “Bildnis des Willibald Pirckheimer in seinem 53. Lebensjahr. Man lebt durch den Geist, das Übrige ist vergänglich.” ↩
- THAUSING 1876, S. 244. Thausings Beschreibung des Bildes: “Mit wenigen Strichen ist uns hier der lustige Weltweise von Nürnberg am Leben erhalten, so wie er in seinen besten Jahren die gelehrten Sodalen bewirthete mit Speise und Trank und mit den derben Spässchen, deren einer wohl von seiner eigenen Hand in eben so gutem als obscönem Griechisch dem Bildnisse beigeschrieben steht.” ↩
- Zur Illustration ein paar Beispiele. REICKE 1911/12, S. 236f: “Wie übrigens Thausing mit Bezug auf die Zeichnung Hausmann sagen konnte, daß in dieser Profilskizze ‘mit wenigen Strichen der lustige Weltweise von Nürnberg am Leben erhalten sei’, ist nicht recht verständlich. Der Gesichtsausdruck ist durchaus nicht freundlich, eher etwas mürrisch, dazu, wie Ephrussi wohl mit Recht bemerkt, sinnlich. Denn auch dieser Zug lag, wie uns die an ihn gerichteten berühmten Briefe Dürers aus Venedig lehren, in Pirckheimers Natur; dazu paßt auch der auf der Zeichnung mit demselben Silberstift geschriebene obszöne griechische Spruch, dessen eigentlichen Sinn ich freilich nicht zu deuten vermag.” In der Fußnote dazu schreibt Reicke: “Auf Grund meiner langjährigen Beschäftigung mit Pirckheimer darf ich wohl behaupten, daß sich über perverse Neigungen Pirckheimers oder Dürers sonst nichts findet. Daß der Spruch kein klassisches Zitat ist, glaubt mir auf Grund eingehender Nachsuchungen Herr Schulrat a.D. Professor Dr. Alfred Eberhard, früher in Braunschweig, jetzt in Bielefeld, ein gründlicher Kenner der erotischen Literatur des Altertums, versichern zu dürfen.” – WINKLER 1937, S. 6: “Den Sinn des offenbar saftigen Humanistenwitzes zu deuten, der am oberen Rande steht, ist nicht gelungen. Entgegen der älteren Ansicht, dass es sich um ein Zitat aus einer Komödie des Aristophanes oder eines anderen griechischen Dichters handelt, wird von E. Reicke versichert, daß der Spruch kein klassisches Zitat ist. Er sei auch seinem mutmaßlichen Inhalte nach innerhalb der Zeugnisse über Pirckheimer ganz vereinzelt.” – PANOFSKY 1955, S. 90: “a silver point sketch whose Greek inscription is not for Victorian eyes”. – ECKERT 1971, S. 82: “Die Inschrift hat einen obszönen Inhalt. Führte Mutwillen Pirckheimers Feder?” – Interessant vielleicht noch, dass der griechische Wortlaut in der Regel korrekt wiedergegeben wurde; fehlerhaft bei ECKERT 1971, Tafel II und STRAUSS 1974, 1503/3, wobei Strauss gleichzeitig eine korrekte Übersetzung ins Englische liefert: “With erect penis, into the man’s rectum.” ↩
- “viri umbilico ad anum”. DREWS 1887, S. 15: “Noch ein andrer trüber Schatten fällt auf den Charakter des großen Humanisten: sein Lebenswandel war nicht sittenrein. Dürer zieht den Freund deshalb mit vielen Späßen auf, aber man weiß, daß hinter dem Scherz der Ernst sich verbirgt. Welche obszönen Witzchen Pirkheimer zu machen verstand, davon haben wir nur eine Probe, aber sie genügt: es ist eine griechische Aufschrift auf einer Profilskizze Pirkheimers von Dürers Hand.” In einer Anmerkung bringt Drews dann den griechischen Wortlaut und seine lateinische Übertragung (S. 128, A. 45). Falls Sie jetzt in einem Latein-Wörterbuch nachgeschlagen haben, sind Sie möglicherweise ein wenig irritiert. Viri umbilicus, der Nabel des Mannes, ist eine etwas merkwürdige Umschreibung für den erigierten Penis. Paul Drews, ein evangelischer Pfarrer und Theologe, dürfte im Lateinischen und Griechischen genügend versiert gewesen sein, um zu wissen, was er da schrieb. Ich hoffe, dass mir irgendwann jemand sagt, welches Wörterbuch ich benutzen muss, um seine Übersetzung nachvollziehen zu können. Die übrigens in die maßgebliche Edition von Dürers Schriften übernommen wurde: RUPPRICH Bd. 3, S. 443. ↩
- TIMKEN-ZINKANN 1972, S. 58. – Timken-Zinkann (1901-1989) war kein Kunsthistoriker, sondern passionierter Sammler und Mäzen; ein Außenseiter der Dürerforschung. Sein Dürer-Buch ist bis heute lesenswert. Die griechische Inschrift hat er interessanterweise nicht in eine Fußnote verbannt. Auf S. 58 schreibt er: “In der Dürer-Literatur wurde diese Aufschrift bisher nicht übersetzt. Auch der Verfasser scheut zurück vor einer adäquaten derben deutschen Übertragung, die zart besaitete Gemüter verletzen könnte; er begnügt sich mit einer Fassung in der heute allgemein verständlichen Sprachregelung: ‘Mit dem erigierten Penis in den Anus des Mannes’. Die Drastik der Inschrift weist auf Aristophanes hin, aber Sachkundige haben versichert, dass ein solches Zitat im Werke des großen Komödienschreibers fehle.” ↩
- REBEL 1996, S. 143: “Das Bild erscheint uns heute eher peinlich, und zwar wegen seiner wohl von Pirckheimer selbst stammenden, nachträglich hineingesetzten Inschrift. Entsprechend betreten geht die Dürerliteratur mit dem Blatt um. Man weiß nicht recht, was mit dem Ausbruch an geiler Lebenslust, den die Inschrift formuliert, anzufangen sei – und was um Himmels willen womöglich Dürer damit zu tun haben könnte. Übrigens: Wir wissen es bis heute nicht.” – Die Übersetzung von Timken-Zinkann bringt Rebel in einer Anmerkung unter (S. 492, A. 31). ↩
- Rebels Biografie war für einen breiteren Leserkreis konzipiert. ↩
- WEINER 2002, S. 58. ↩
- Dürers Mutter, Berlin 2006; Hexenlust und Sündenfall, Frankfurt/M. 2007; Der frühe Dürer, Nürnberg 2012. ↩
- Um genau zu sein: Die Analyse wurde bereits 2002 durchgeführt. Vgl. Ina REICHE (u.a.), BAMline meets Dürer and van Eyck: Multi-disciplinary investigation of Renaissance silver point drawings by μ-SR-XRF. In: BESSY Annual Report 2002. S. 416-418. (Eine kurze englische Version der Forschungsergebnisse. – Eine deutschsprachige, zugleich ausführlichere und gut nachvollziehbare Version finden Sie hier: ZfP-Zeitung 96. Oktober 2005. S. 40-45.) ↩
- Da Dürer mit Sicherheit kein Griechisch konnte, kommt eigentlich nur Pirckheimer selbst als Schreiber in Betracht. Dürer war zweifellos mit den griechischen Buchstaben vertraut, aber dass er das Alphabet kannte, bedeutet nicht, dass er in der Lage war, eben mal ein griechisches Epigramm an den Rand einer Zeichnung zu kritzeln. – Übrigens sieht schon Thausing Pirckheimer als Urheber der Notiz an (siehe Anmerkung 5; vgl. auch ECKERT 1971, STRAUSS 1974, CARSTENSEN 1982). Für die Inschrift sei derselbe Stift verwendet worden wie für die Zeichnung (so z.B. auch Reicke, siehe Anmerkung 6). ↩
- Vgl. BRINKMANN 2007, S. 104f. ↩
- Vgl. SATZINGER 2007, S. 236. – Noll bemerkt dazu: “Nicht klar scheint mir allerdings, wie die von Pirckheimer über seinem Bildnis notierte Beischrift – die doch wohl im Sinne einer Aussage, Maxime oder Aufforderung zu lesen ist – als Beschimpfung verstanden und auf Dürer bezogen werden kann.” (NOLL 2014, S. 34) ↩
- NOLL 2014, S. 41. – Noll bringt außerdem eine eigene Erklärung ins Spiel, mit der er die Inschrift als eine Art Selbstkommentar auffasst: Pirckheimer grinst auf dem Bildnis. Zähne zeigendes Grinsen kann als Ausdruck der Lüsternheit gedeutet werden. Die Inschrift fasst diese Mimik in Worte. “Pirckheimers die Zähne zeigendes Grinsen könnte als mimisch fest konnotierter Ausdruck einer (satyrhaften) Lüsternheit bzw. Triebhaftigkeit zu verstehen sein. Denkbar erscheint, dass der Dargestellte sein Bildnis tatsächlich in dieser Weise begriffen und mit der Beischrift seine Mimik als Ausdruck der Lüsternheit, der sexuellen Begierde – in derb-homoerotischer Ausprägung – charakterisiert bzw. interpretiert hat. Denkbar erscheint auch, dass Dürer eine entsprechende Reaktion des Freundes auf seine Zeichnung provoziert hat.” (a.a.O., S. 35) ↩
- GÖTZE hat als Stichwort die Variante buseron (Päderast) und führt sie auf florentinisch buggerare (schänden) zurück. ↩
- Ovid, Metamorphosen 10, 80-85 und 11, 1-43. Das Bild ist in der kunsthistorischen Literatur ausgiebig kommentiert worden. Näheres dazu beispielsweise hier. ↩
- RUPPRICH Bd. 1, S. 56, Z. 30-32. – Brief vom 8.September 1506. ↩
- HOLZBERG 1981, S. 68. ↩
- Durch den Aufsatz über die Freundschaft zwischen Dürer und Pirckheimer, der 2014 im Jahrbuch der Willibald-Pirckheimer-Gesellschaft veröffentlicht wurde, hat sich an dem Zustand nichts Wesentliches geändert. Auf ca. 40 Seiten gibt der Kunsthistoriker Thomas Noll einen Überblick über den Stand der Forschung zu dem Thema und steuert auch selbst einige interessante Beobachtungen und Überlegungen bei; das ist gut, aber eine Bresche schlägt es nicht. Noll tastet sich anhand der erhaltenen Briefe (Dürer an Pirckheimer) und Bilder (die drei Pirckheimer-Porträts) heran an “das komplexe, im Kern vielleicht sogar komplizierte Verhältnis zwischen Dürer und Pirckheimer” (NOLL 2014, 25), wobei er auch weitere bekannte Quellen hinzuzieht, etwa das Dürer betreffende Horoskop, das Lorenz Beheim für Pirckheimer erstellt. Ausführlich kommt er zu sprechen auf “das Skandalon schlechthin bei allen Mutmaßungen über den Charakter bzw. das Ausmaß dieser Männerfreundschaft” (a.a.O., 29): die griechische Randnotiz. Er referiert vorhandene Deutungsansätze, bringt auch eine eigene Erklärung (die Inschrift als eine Art Selbstkommentar) und erläutert mit geradezu syllogistischem Scharfsinn, was “einen unmittelbaren Realitätsbezug der Beischrift auf der Silberstiftzeichnung in hohem Grade unwahrscheinlich” macht (a.a.O., 43): Homosexualität war von der Kirche verboten; bei so herausragenden Männern wie Pirckheimer und Dürer wäre eine Übertretung des Verbots in Nürnberg nicht unbemerkt geblieben; in den Quellen ist jedoch nichts dergleichen überliefert. (a.a.O., 42: “Bereits Timken-Zinkann hat zudem deren Ächtung in dieser Zeit als ‘himmelschreiende Sünde’ herausgestrichen, ‘die nur vom Papst oder dessen besonders beauftragtem Stellvertreter absolviert werden’ konnte und von der kaum zu denken ist, dass sie bei prominenten Persönlichkeiten wie Pirckheimer und Dürer in Nürnberg im Verborgenen (und das heißt auch: in der Quellenüberlieferung unerwähnt) geblieben wäre.”) In einer Fußnote führt Noll ein weiteres Argument an: “Man mag auch Dürers Äußerungen in seinem Gedenkbuch, im Anschluss an die Schilderung vom Tod der Mutter, hinzunehmen, die kaum von einem ‘Sodomiten’ – der die Tragweite des ‘peccatum contra naturam’ in seiner Zeit kennen musste – geschrieben sein können.” (a.a.O., S. 43) Was meint er damit? Dürer schreibt so fromm, dass man daraus auf ein unbelastetes Gewissen schließen muss? Ich kann mir nicht helfen, auf mich wirkt das, als ob der Autor des Aufsatzes zu gern zu dem Ergebnis kommen möchte, es handle sich bei dem im Kern vielleicht sogar komplizierten Verhältnis zwischen Dürer und Pirckheimer bestimmt nicht um so etwas wie praktizierte Homosexualität. – Die Äußerungen in Dürers Gedenkbuch lauten übrigens wie folgt: “Gott der her verleich mir, daz jch awch ein selichs ent nem, vnd das got mit seinem himlischen her, mein vater, muter vnd frewnd zw meinem ent wöllen kumen, vnd daz vns der allmechtig got daz ewig leben geb. Amen.” (RUPPRICH Bd.1, S. 37, Z. 109-113.) ↩
- GULDEN 2012, S. 287: “Neben zahlreichen sexuell konnotierten Bemerkungen in ihrer Korrespondenz nährt die obszöne Silberstiftinschrift seit langem methodisch höchst problematische biografische Spekulationen über eine homo- bzw. bisexuelle Orientierung Dürers und Pirckheimers.” ↩
- CARSTENSEN 1982, S. 130. – Carstensen hat seine Übersetzung vermutlich ohne Kenntnis von Timken-Zinkanns Version verfasst; dessen Buch taucht in seiner Literaturliste jedenfalls nicht auf. ↩
- ROTH 2006, S. 144 ↩
- SCHUSTER 1992, S. 65. ↩
- SCHUSTER 1992, S. 64f: “Anhand sporadischer Hinweise ist zu vermuten, dass für den Geschlechtsverkehr im Frauenhaus die gleichen ‘Regeln’ wie für den Geschlechtsverkehr in der mittelalterlichen / frühneuzeitlichen Gesellschaft überhaupt galten. In Ulm wurde 1517 Jörg Schlegelholz verbrannt, weil er mit einer Prostituierten Analverkehr gehabt hatte. Auch die Prostituierte, die diesem Ansinnen nachgegeben hatte, wurde mit Stadtverweis bestraft. In dieser Strafbemessung spiegelt sich die hohe moralische Verwerflichkeit, die solchen Sexualpraktiken zugeschrieben wurde.” ↩
- Womit nichts über den Genitiv in der Übersetzung der Inschrift gesagt ist. In diesem Punkt muss ich passen. Von griechischer Grammatik verstehe ich rein gar nichts. ↩
- Herkules ↩
- Hyakinthus ↩
- Achill ↩
- Patroklos ↩
- MARTIAL 2008, S.190f. – Den Hinweis auf dieses Epigramm und die Anmerkungen zu den Namen verdanke ich dem Übersetzer. – Dass Pirckheimer Martials Epigramme gekannt hat, davon kann man ausgehen (immerhin befand sich in seiner Bibliothek ein Martial-Kodex aus dem Besitz seines Vaters, HOLZBERG 1981, S. 39); ob er auch speziell dieses Epigramm gelesen hatte, vermag ich nicht zu sagen. Dass 11,43 damals auch gedruckt vorlag, davon kann man sich leicht selbst überzeugen, z.B. anhand eines Druckes aus dem Jahr 1515 (Straßburg). Ebenso kann man sich leicht einen Eindruck davon verschaffen, dass Gedichte wie das zitierte Martial-Epigramm in der antiken Literatur keineswegs einzigartig sind. Man lese dazu beispielsweise die Carmina Priapea (die seit dem 15. Jahrhundert im Druck vorlagen, GOLDBERG 1992, S. 29). – Zum Thema Homosexualität in der Antike gibt es einigermaßen hilfreiche Wikipedia-Einträge (Griechenland, Rom). ↩
- Zu der Frage, wieweit Dürer lateinische Epigramme selbständig lesen konnte, siehe Dürers Latein. ↩
- NOLL 2014, S.10. ↩
- Der frühe Dürer, 24. Mai bis 2. September 2012. ↩
- Bild-Zeitung, 24.05.2012: Walter M. Straten, Genie und ein bisschen bi … Hatte Dürer einen unruhigen Pinsel? ↩
- FAZ, 23.05.2012: Dieter Bartetzko, Ein Maler will nach oben. ↩
- Dazu noch ein Beispiel aus der Literatur: In einem 2005 erschienenen historischen Roman wird eine Liebesszene zwischen Dürer, Pirckheimer und einer Frau geschildert, in deren Verlauf die Frau erkennt, “dass sie nicht mehr gebraucht” wird, da die beiden Männer miteinander beschäftigt sind. (WEIGAND 2007, 318) Im Nachwort nimmt die Autorin Bezug auf “erotische Bemerkungen auf Griechisch, die Pirckheimer an den Rand einer Dürerzeichnung schrieb”. (a.a.O, 589) ↩
- Ein Fragezeichen würde ich allerdings machen. Es stimmt nachdenklich, dass Homophobie in letzter Zeit wieder stark an Boden gewinnt. Mir fällt da nicht nur der Anschlag von Orlando ein. ↩